Kirstin Diehl - wer war das eigentlich?
Kaum eine Frage scheint mir so schwer zu beantworten, wie gerade diese.
Ja, ich habe sie gekannt. Durfte sie ein Stück weit auf dem Weg durch ihre Krankheit begleiten. Sie vertraute mir Ihre Gedanken an, vielleicht sogar das ein oder andere Geheimnis, das sie mit sonst niemandem teilte. Aber weiß ich deshalb, was für ein Mensch Kirstin war? Ich dürfte dies wohl nur dann mit einem Ja beantworten, wenn ich ihr beständiger nahe gewesen wäre, wenn ich sie in all ihrem Kummer, ihren Ängsten, Hoffnungen und Erfolgen begleitet hätte.
Ich aber bin immer nur für Augenblicke in ihr Leben - und ihre Krankheit- abgetaucht, kehrte anschließend zurück in mein eigenes hektisches, aufregendes, gesundes Dasein. Trotzdem glaubt Kirstins Vater, einer der beiden Menschen, die ihr tatsächlich am nächsten waren, dass niemand anders sie wieder lebendig werden lassen könnte als ausgerechnet ich. Mein Gott - ich habe das Phänomen Kirstin ja bis heute nicht richtig begriffen.
Ja, ihre Geschichte die kenne ich: Am 2 . August 1971 wurde Kirstin geboren. Ihre Kindheit war ausgeglichen, sagen ihre Eltern. Sie war so gut wie nie krank, immer fröhlich und äußerst aktiv. Lesen, Reiten, Rudern, Schwimmen oder Tanzen - Kirstin tat alles mit leidenschaftlicher Freude. Den Urlaub verbrachte sie am liebsten im sonnigen Italien. Ein Glückskind, der Sonnenschein ihrer Eltern, ein Bilderbuchleben. Die Bauchschmerzen nahm sie anfangs gar nicht so ernst. Kirstin war niemand, der gleich jammerte. 18 Jahre war sie alt, wollte später ihr Abitur machen und träumte wie alle jungen Mädchen von ihrer strahlenden Zukunft.
Die Schmerzen wurden immer schlimmer, sie ging zum Arzt. Die Diagnose veränderte ihr Leben - noch bevor es richtig angefangen hatte. Kirstin hatte Krebs. Die Leber war bereits völlig zerfressen, der Bauchraum wimmelte von Metastasen, und das Hauptgeschwür konnten die Ärzte nicht ausmachen. Sie gaben den Teenager auf.
Doch Kirstins Eltern waren entschlossen, um das Leben ihres Kindes zu kämpfen. Mit Mühe setzten sie eine Transplantation durch. Bei dieser Operation bekam Kirstin im Sommer 1990 nicht nur eine neue Leber, ihr wurden auch Lymphknoten, Milz und Magen entfernt. Letzteren hatte das OP-Team als Herd der Krankheit ausgemacht. Und dann ein kleines Wunder: Kirstins geschwächter Körper akzeptierte das fremde Organ. Das Leben schien ihr eine zweite Chance zu geben. Das Mädchen ergriff sie: Kirstin holte das Abitur nach, reiste mit den Eltern nach Südtirol und plante ein Germanistik-Studium in Trier. Sie war gerade dabei, sich dort nach einer kleinen Wohnung umzuschauen, da kam der Rückschlag. Metastasen in ihrer Lunge durchkreuzten den Traum von einer normalen Zukunft endgültig. Doch das war Kirstin zunächst nicht klar. Als ich sie Anfang 1995 kennen lernte, saß mir eine junge Frau gegenüber, der das Schicksal übel mitgespielt - und die trotzdem den Mut nicht verloren hatte. Genau zehn Jahre war sie jünger als ich selbst. Und sie hatte beschlossen, nicht untätig dazusitzen und zu warten, was die Ärzte gegen ihre Krankheit zu tun gedachten. Sie hatte sich informiert, wusste damals schon bereits mehr über Krebs und seine Heilungsmöglichkeiten, als viele Medizinstudenten in fortgeschrittenem Semester. Und sie sammelte Spenden für die Freiburger Klinik für Tumorbiologie. Dort fühlte sie sich ernst genommen, geborgen - und sie vertraute den Ärzten nicht weniger als ihr Leben an.
Etwa 30.000 Mark hatte sie damals schon für das Forschungszentrum dieser Klinik zusammenbekommen. Dafür hatte sie goldene Lebensblätter und selbstgestickte Weihnachtskarten verkauft oder ganz einfach um Spenden gebeten. Mit beachtlichem Erfolg. Deshalb war ich da. Keiner von uns ahnte, dass sie in kurzer Zeit ganz andere Summen würde vorweisen können - mehr als eine Million Mark kamen in nur zwei Jahren zusammen - und wir beide haben wohl auch nicht geglaubt, dass aus diesem "Termin" Freundschaft wird.
Doch hätte ich drei oder vier Stunden mit diesem Menschen verbringen können, der sich in aller Unschuld öffnete, ohne Scheu über seine Krankheit, Ängste und Hoffnungen sprach, um ihn zu vergessen, sobald die Wohnungstür hinter ihr ins Schloss fällt? Ich habe sie bewundert, und ich konnte sie verstehen. Sie war eine Kämpferin, eine, die nicht einfach aufgibt. Eine, die eben das tut, was sie tun kann. Die Forschung unterstützen, anderen Kranken Mut zusprechen - das waren die Waffen der Kirstin Diehl im Kampf gegen den Krebs. Sie war zutiefst davon überzeugt, dass sie das Wachstum der bösartigen Geschwüre beeinflussen könnte: Kummer und Leid hielt sie für die Nahrung der Tumore und setzte deshalb ihren Lebensmut dagegen. Sie glaubte auch deshalb so fest an sich, weil sie es für ihre einzige Chance hielt zu überleben. Sie versuchte unermüdlich, anderen Krebspatienten einen Teil ihrer Kraft zu vermitteln, ganz einfach weil sie es für das Richtige hielt, jenen zu helfen, die schwächer waren als sie selbst. Und sie genoss die vielen Auszeichnungen und Würdigungen, die sie erfuhr, weil sie ihr das Gefühl gaben, nicht allein zu sein. All diese Dinge halfen ihr dabei, sich trotz ihrer Krankheit, trotz dem Verlust all dessen, was andere Menschen Lebensqualität nennen, glücklich zu fühlen. Und doch gab es da etwas an diesem jungen Menschen, das mir ein Geheimnis blieb.
Das Leben in ihr verging, brannte nieder wie eine Kerze. Sie wurde immer zarter, zerbrechlicher, ihr Anblick ließ von mal zu Mal weniger Zweifel daran, dass die Momente mit ihr kostbar, weil nicht wiederholbar waren. Kirstin machte es nicht viel aus, über den Tod zu reden. Aber sie sah ihn anders. Für sie war es nicht Sterben, für sie war es ihr Leben. Jede Minute davon war kostbar - egal, wie schlecht es ihr ging. Das machte sie für viele Leute zur Heldin. Verleiht ihr - besonders jetzt, nach ihrem Tod - einen Heiligenschein. Mir ist nie wohl dabei gewesen, sie so zu glorifizieren. Denn Kirstin war ein ganz normaler Mensch. Irgendwo zwischen Kind und Frau hatte sich der Krebs in ihr Leben geschlichen. Sie arrangierte sich mit ihm: Mal kämpferisch, mal weise, mal traurig, mal ungeduldig und ungerecht wie ein trotziges kleines Mädchen. Das Zusammensein mit ihr konnte eine Achterbahnfahrt sein, denn manchmal schaffte sie all diese Rollen in wenigen Minuten. Kirstin wusste, dass ihr nicht viel Zeit blieb. Deshalb erlaubte sie sich nicht die geringste Verstellung. Alles an ihr war echt. Niemals wäre sie auf die Idee gekommen, mit ihrem Schicksal zu hadern. Warum gerade ich? Diese Frage bedeutete für sie, die eigene Krankheit einem anderen Menschen zu wünschen. Undenkbar! Für andere da zu sein, hielt sie schon deshalb für ihre Pflicht, weil andere ja auch für sie da waren. Natürlich wusste Kirstin irgendwann, dass ihr Engagement für die Krebsforschung ihr selbst nicht mehr helfen würde. Aber sie hatte darin ihren Lebenssinn gefunden. Deshalb kämpfte sie bis zuletzt weiter. Um am Ende auch den Tod annehmen zu können.
Kirstin Diehl war zutiefst Mensch. Sie kannte Angst, Zweifel und Hoffnungslosigkeit. All diese schrecklichen Gefühle, die jeden von uns an ihrer Stelle überfallen würden, waren auch ihr vertraut. Im Gegensatz zu den meisten von uns ließ sie sich davon allerdings nicht unterkriegen.
Am 12. Februar 1997 starb Kirstin. In den Herzen unzähliger Menschen wird sie noch sehr lange weiterleben.
Doris Ruch