Leben und Lebenswerk von Kirstin Diehl: Wenn wir an Kirstin denken

von Gerd und Gerda Diehl

Wenn wir an Kirstin denken, erinnern wir uns immer wieder an den Tag, als die Ärzte uns die niederschmetternde Diagnose vermittelten, dass Kirstin Krebs hat. Man gibt Kirstin nur noch kurze Zeit zu leben. Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit bewirkten eine gewisse Leere, die uns vollkommen handlungsunfähig werden ließ. Mehrere Stunden brauchten wir, um zu begreifen, welch tiefgreifende Veränderung dies für uns alle mit sich bringen wird. Unsere lebensfrohe Tochter war von einer Minute auf die andere todkrank und wir konnten zum ersten Mal nichts tun, um ihr zu helfen. Bis jetzt waren die Krankheiten berechenbar, wenigstens einigermaßen einzuschätzen. Hustensaft, Wadenwickel, die Geborgenheit, der Trost, die Liebe der Eltern reichten aus, die Dinge wieder ins Lot zu bringen. Alles war jetzt so anders, so unfassbar und alle um uns herum waren scheinbar ebenso hilflos und betroffen wie wir. Wir erinnern uns an die bedrückende Situation, als wir uns zum wiederholten Mal sprachlos mit Tränen in den Augen anschauten – wir wussten, da wartet noch eine schier unlösbare Aufgabe auf uns. Wir mussten Kirstin erklären, wie es um sie steht.

Wenn wir an Kirstin denken, erinnern wir uns auch an die Zeit, in der sich Hoffen und Bangen abwechselten. Es war die Zeit, als wir in Prof. Dr. Pichlmeyr in der medizinischen Hochschule Hannover einen Arzt fanden, der in einer schier unglaublichen 12-stündigen Operation die Lebertransplantation vornahm und die schon befallenen Organe
wie Magen, Milz und Lymphknoten ebenfalls entfernte. Kirstin fühlte sich nach längerer Zeit der Genesung wieder besser. Sie macht mit Magensonde und weichen Knien, sie wiegt gerade mal 36 Kilo, das Abitur und plant zum Sommersemester 1994 ein Germanistikstudium. Der Studienplatz ist ihr zugesagt und ihr Lebensmut ist weiterhin ungebrochen.

Wenn wir an Kirstin denken, erinnern wir uns an die Zeit, als das Schicksal alle ihre Pläne durchkreuzt, denn im Januar 1994 stellen die Arzte Metastasen in Lunge und Enddarm fest. Hannover, Essen, Heidelberg, keines der großen Krebszentren kann helfen. Es gibt nur wenig Hoffnung, denn eine möglicherweise wirksame Therapie könnte zur Leberabstoßung führen. Kirstin erfährt von der Klinik für Tumorbiologie in Freiburg und lässt sich dort behandeln. Das Besondere an dieser Klinik ist, dass hier der mündige Patient im Vordergrund steht. Man sieht nicht nur die Krankheit im Menschen, sondern den Menschen in der Krankheit, mit dem gemeinsam ein Behandlungskonzept erstellt wird. Kirstin gibt nicht auf und sie beschließt, die Forschungsprojekte der Klinik für Tumorbiologie zu unterstützen. Sie sagt immer, sie habe keine Lust, sich pausenlos mit sich selber und ihrem Schicksal zu beschäftigen. "Ich will etwas Produktives tun. Wenn ich nur untätig rumsitze, geht es mir garantiert viel schlechter. Aus meiner Tätigkeit schöpfe Ich neue Kraft.“

Wenn wir an Kirstin denken, erinnern wir uns nur zu gerne an die Jahre 1993 und 1994, als Kirstin es sich nicht nehmen ließ, wunderschöne Urlaubswochen in ihrem geliebten Caorle an der Adria zu verbringen. Keiner der Gäste im Hotel Alexander hat auch nur im Geringsten geahnt, wie krank Kirstin zu diesem Zeitpunkt ist. Ihre positive Ausstrahlung und ihr unbändiger Lebensmut ließen diese furchtbare Krankheit fast als Nebensache erscheinen. Sie liebte Italien, den Strand, das Meer, die Wärme und die Lebensart. Sie hatte bis zum Schluss immer wieder den Wunsch, noch einmal, sei es nur für kurze Zeit, in Caorle am Strand zu sitzen.

Wenn wir an Kirstin denken, erinnern wir uns an ihr Engagement, der Öffentlichkeit klar zu machen wir können alle zusammen etwas tun gegen die Krankheit Krebs. Wir können zum Beispiel Studien unterstützen, von denen wir möglicherweise alle einmal profitieren werden. Sie zeichnet sich durch ihre besondere Kraft aus. Sie denkt nicht in erster Linie an sich, sondern an all die anderen, die auf Hilfe warten. Sie wiegt noch 30 Kilo, als sie in der Sendung „Schreinemakers live“ zu Spenden aufrief und von der Redaktion zur „Frau des Jahres 95“ gekürt wurde.

Wenn wir an Kirstin denken, erinnern wir uns an Kirstins Wunsch, einen Förderverein ins Leben zu rufen, der die Krebsmedizin unterstützt. Ihr Verein Kirstins Weg wird im Juli 1996 gegründet. Im Oktober 1996 wird ihr das Bundesverdienstkreuz verliehen. Sie wiegt nur noch 23 Kilo, als sie an Weihnachten 1996 nochmals in RTL zum Spenden für die Forschung aufrief. „Steht nicht rum und wartet bis etwas passiert. Macht euch auf den Weg. Wir alle sind verantwortlich dafür, dass die Krebsmedizin den entscheidenden Durchbruch schafft. Wir Patienten haben der Medizin so viel zu sagen. Hört uns zu, steht zusammen, sagt es weiter. Alleine schafft es niemand. Alleine können es die Forscher, die Ärzte und die Politiker nicht schaffen. Aber gemeinsam kommen wir dem Ziel näher als je zuvor.“

Wenn wir an Kirstin denken, erinnern wir uns an die letzten gemeinsamen Stunden mit ihr vor ihrem Tod. Ihr Mut ist auch jetzt noch ungebrochen. Sie vermittelt uns durch ihre Stärke eine gewisse Hoffnung. Sie hadert auch jetzt nicht mit ihrem Schicksal. Früh morgens am 12. Februar 1997 stirbt Kirstin. Sie schläft friedlich ein und hinterlässt uns ihr Vermächtnis: „Schaut euch um, so viele sind da, die auf Hilfe warten und die zur Hilfe für euch bereit sind. Man lebt nur wirklich, wenn man sich einsetzt für andere Menschen. Bitte macht weiter, wo ich aufhören musste. lch sage bewusst Aufwiedersehen, denn nichts ist verloren oder sinnlos geworden.“

Wenn wir an Kirstin denken, sehen wir unsere Tochter, die in unserer Erinnerung weiterlebt.